Pariser Stücke


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Herbstbesuche

Theaterstücke

Aktuell

Über uns

Das Stück spielt in Paris in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts. 



PERSONEN: 


MADAME  eine achtzigjährige ehemalige deutsche

               Schauspielerin

JOSEPHINE ihr Hausmädchen 

ALFONS ein Briefträger

ZWEI MÄNNER


Ähnlichkeit mit verstorbenen oder lebenden Personen ist nicht beabsichtigt und wäre rein zufällig.


I. TEIL


1. 


In einer großen Wohnung in Paris.

Ein Fenster und die Tür zu einem Nebenzimmer sind geöffnet. Aus dem Nebenzimmer hört man Geschirrklappern. Am Fenster sitzt in einem Rollstuhl MADAME.


MADAME: 

Die schönsten Tage in Paris sind die Herbsttage

wenn die letzten warmen Sonnenstrahlen 

sich auf die Blätter der Kastanien legen 

Die Leute reden immer vom Frühling 

Vom Frühling in Paris

Alles Quatsch 

Der Herbst ist  die schönste Jahreszeit 

nicht der Frühling


sie wendet sich zur Tür 


Nicht wahr Josephine? 


Aus dem Nebenzimmer 


JOSEPHINE: 

Ja Madame 


MADAME(äfft sie nach): 

Ja Madame

Dabei hört sie gar nicht zu 

hat noch nie zugehört 

Ja Madame 

ist das einzige was sie sagen kann 

Ja Madame 

Manchmal aber auch ganz praktisch 

dass sie nie zuhört 


sie rollt zur Tür


JUJUJUJUJUJUJU 

Haben Sie alles abgedeckt? 


Sie hebt den Arm und dirigiert die Antwort mit 


beide zusammen

Ja Madame


JOSEPHINE: 

Ja Madame 

Ich verstehe es nur nicht 

wo Sie doch Besuch bekommen 


MADAME:

Der Besuch kann mir den Buckel runterrutschen 

Josephine denken Sie nicht so viel 

das schadet Ihrem Teint 

Und tun Sie mir bitte einen Gefallen 

Sagen Sie nicht andauernd 

ja Madame

ich kann es nicht mehr hören 


JOSEPHINE:

Ja Madame

aber was soll ich sonst sagen? 


MADAME:

Wie wäre es mit Gnädiger Frau 

oder 

ehrwürdige Herrschaft


JOSEPHINE:

Aber Madame 

Hier in Paris sagen die Dienstmädchen 

Madame

so habe ich es gelernt 

so ist es üblich


MADAME: 

Josephine? 

Wie lange waren Sie bei den Herrschaften 

vor mir in Stellung?


JOSEPHINE:

Zwei Jahre Madame 

Wieso fragen Sie? 

Ist etwas nicht in Ordnung? 


MADAME(zu sich selbst): 

Ich muss mir gelegentlich die Telefonnummer 

von den Herrschaften geben lassen 

Möchte zu gerne wissen 

wie die das ausgehalten haben?

Den ganzen Tag nur 

Ja Madame


MADAME rollt hinüber zu einer großen Kiste, die mitten im Raum steht. 


MADAME: 

Josephine? 

Hatte ich Ihnen nicht gesagt 

Sie mögen den Projektor in den Keller bringen? 

Wieso steht er immer noch da?


JOSEPHINE kommt herein


JOSEPHINE: 

Aber Madame 

Die Kiste ist zu schwer für mich 

Allein 

die ganzen vielen Filmrollen in den Keller zu bringen 

war schon eine Qual


MADAME: 

Dann fragen Sie einen Ihrer nächtlichen Besuche 

mit denen Sie Ihr Bett 

und meinen Kühlschrank teilen


JOSEPHINE: 

Aber Madame 


MADAME: 

Rufen Sie sie an 

Hopp hopp hopp 

Es wird doch wohl einer darunter sein 

der kein Schlappschwanz ist 

so wie der junge Deutsche 

der mich unbedingt besuchen will 


Sie lacht


JOSEPHINE: 

So dürfen Sie nicht reden 

Jede Woche hat er Ihnen geschrieben 

und das zwei Jahre lang 


sie beginnt zu schwärmen 


Es waren immer solche lieben Briefe 

So warme Worte 

voller Würde und Hochachtung 

Ihnen gegenüber 


MADAME: 

Alles Quatsch 

Ich habe in dem Alter 

besseres zu tun gehabt 

als Briefe zu schreiben 

Übrigens 

woher kennen Sie denn meine Briefe? 

Seit wann können Sie Deutsch?


JOSEPHINE: 

Aber Madame

Sie haben sie mir vorgelesen 

unzählige Male

So wunderschön hat es geklungen 

wenn Sie sie vorgelesen haben 

Ihre Stimme war so schön 

wie in Ihren alten Filmen


MADAME: 

Die Betonung lag wohl gerade auf alt 

wie? 

Genug geschwätzt 

Decken Sie weiter alles ab 

und rufen Sie einen Ihrer Hengste an 

einen Ihrer Deckhengste


Sie lacht und haut JOSEPHINE auf den Hintern. 

Missmutig verlässt JOSEPHINE den Raum. 


zu sich selbst 


Kann mich gar nicht daran erinnern 

ihr die Briefe vorgelesen zu haben 

Sie bestiehlt mich zwar 

aber gelogen hat sie noch nie 


sie rollt durch den Raum 


JUJUJUJUJUJU 


Ich werde alt 

Auch fühlt sich mein Hintern 

nicht mehr so kräftig an 

wie der ihre 

Obwohl ich glaube 

dass ihrer häufiger betatscht wurde 

als der meinige 

Den triebhaften Hang

der Männer zum Dienstpersonal 

werde ich wohl nie begreifen


sie dreht lautstark ein paar Runden durch den Raum.

Plötzlich hält sie inne. 


Die Briefe!

Mein Gott! 

wo sind die Briefe? 

Verlegt werde ich sie haben 

Irgendwo da 

unter dem weißen Stoff 

Josephine? 

Josephine!


sie rollt zur Tür 


Josephine? 

Jetzt treibt sie es schon 

am helllichten Tage 

dabei ist sie noch nicht einmal eine Schönheit 

Die französischen Männer 

sie haben keinen Geschmack 

Aber wenn ich da an mein Berlin denke 

werde ich heute noch rot 

Um diese Uhrzeit 

sind wir erst nach Hause gekommen 


MADAME(nachdenklich): 

Aber das Berlin 

mein Berlin 

gibt es ja nicht mehr 

Es ist vor mir gestorben 

wie vieles andere auch 

Manchmal frage ich mich 

was schlimmer ist 

zu sterben oder übrig zu bleiben 

Alles stirbt weg 

Am Anfang schmerzt er 

der Verlust der Freunde 

Aber wenn dann keiner mehr da ist 

bei dem man klagen oder trösten kann 

was hat es dann noch für einen Sinn 

Alles Quatsch 

das mit der Trauer 

Alles Quatsch und verlogen


Die Briefe mit Tinte geschrieben 

auf hellblauem Papier 

in länglichen Umschlägen 

genügend frankiert 

und per Eilboten 

Der Jugend kann es nicht schnell genug gehen 

Ich habe nie auf diese Briefe geantwortet 

bis auf dieses eine verflixte Mal 

und jetzt kommt er 

auf Grund einer Höflichkeitsfloskel 

Jeder normale Mensch 

würde höflich mit Nein danke antworten 

Er aber schreibt Ich komme 


Er liebt Hölderlin 

genauso wie ich 

Damit hat er mich gekriegt 

Meinen Hölderlin 

hat er dazu benutzt 

um in meine Wohnung zu kommen 

Die Briefe 

jetzt weiß ich wieder wo sie sind


Sie stützt sich auf dem Rollstuhl ab und holt unter ihrem Sitzkissen die Briefe zum Vorschein. 

Sie betrachtet sie für einen Moment, dann legt sie den Stapel wieder zurück. 


Da liegen sie gut 

Da wird sie niemand vermuten 

selbst Josephine wird sie nicht finden


Sie rollt zum Fenster, daneben steht ein Tisch, der mit weißem Leinen abgedeckt ist. Sie zieht das Tuch herunter, ein Grammophon kommt zum Vorschein. Sie macht es, an Enrico Caruso ist zu hören


Schallplattenapparat 

Die Deutschen können sich einfach 

keine schönen Namen 

für schöne Dinge einfallen lassen 

Sie haben einfach keinen Sinn 

für das Schöne 

Grammophon klingt da 

schon ganz anders 

und in Verbindung mit der unsterblichen Stimme von Enrico Caruso 

ist es gar eine Wohltat 


Sie rollt zum Fenster 


Sie schaut hinaus 


Meine Kastanien 

sie hören gerne Musik 

Enrico Caruso ist eine Abwechslung 

zum ewigen gleich bleibenden Straßenlärm 

Es soll jetzt sogar schon Musikapparate geben 

die den Straßenlärm übertönen können 

Die Anschaffung 

eines neuen modernen Grammophons 

wäre eine Überlegung wert

Da würden sie staunen 

meine Bäumchen 

wenn plötzlich 

Enrico lauter wäre als der Straßenlärm 

Vielleicht würden dann auch 

endlich die Kinder aufhören 

mit Stöcken auf die Kastanien zu werfen 

Die unerträgliche Ungeduld der Jugend 

Sie können es nicht abwarten 

dass die Früchte von selber hinunterfallen 

Meine armen Kastanien 

ich kann mit euch mitfühlen 

Ob ich früher auch einmal so war? 

Jetzt bin ich alt 

und es ist egal 


Sie rollt zur Tür hinaus


JUJUJUJUJUJU 

Ich bin alt 



2.


Das Zimmer wie vorher. Zwei Männer heben mit Mühe die Kiste an, die in der Mitte des Raumes steht. 


1.MANN: 

Verdammt schwer die Kiste

Ich war einmal Leichenbestatter 

im 7. Arrondissement aber so etwas 


2.MANN: 

Schwerer als ein Klavier 

Vielleicht die Überreste ihrer Liebhaber 


Beide lachen und müssen die Kiste wieder absetzen. 


2.MANN: 

Wenn Madame nicht im Rollstuhl 

sitzen würde 

ich wäre nicht gekommen 


1.MANN (schwärmerisch): 

Ja Madame 

Alle Filme von ihr habe ich gesehen 

Ein Weltstar 

verstehst du? 

Die sieht unsereins sonst nur im Kino 

Vierzig Jahre Weltstar


2.MANN: 

Und dann so eine Wohnung 

in so einem Bezirk 


1.MANN: 

Das ist schon in Ordnung 

Viele berühmte Leute haben hier gewohnt 

sicher 

die meisten sind weggezogen oder verstorben 

Sie will sicherlich nur ihre Ruhe haben 

das kann ich verstehen 

Und die Wohnung?


So schlecht ist sie auch wieder nicht

Ich finde die Wohnung passt zu ihr 

Schade nur 

dass sie im vierten Stock liegt 

So kommt sie viel zu selten an die frische Luft 


MADAME kommt hereingerollt 


MADAME: 

JUJUJUJUJUJU


Genug gequatscht 

An die Arbeit meine Herren 

Vom Quatschen bekommt man keine Kinder 

und von mir noch nicht einmal ein Bier


Sie haut einem der beiden Männer auf den Hintern. 

Beide schauen verblüfft. 


Schöne pralle Hinterteile 

da steckt Energie drin

Also los jetzt!

Eine Kleinigkeit 

die Kiste für so starke Männer 

Und wenn ihr brav seid 

dürft ihr meine Beine sehen 

Deshalb seid ihr doch nur gekommen 

Meine Beine 

die wolltet ihr sehen 


Sie lacht. 

JOSEPHINE erscheint in der Tür.

Die beiden Männer nehmen die Kiste und tragen sie hinaus


JOSEPHINE: 

Die schönsten Männer von Paris 

nicht wahr Madame?

Solche Männer 

haben Sie mir nicht zugetraut 


MADAME:

Quatsch

Alles Quatsch

Neugierig waren sie 

wie all die anderen auch

das ist alles 

Sie wollten nur einmal sehen 

wie so ein Weltstar lebt 

wo er wohnt 

so ein ehemaliger Weltstar 

wie weit er schon heruntergekommen ist 

Ohne Schminke 

ohne Kostüm 

und ohne Licht 

Nur mal sehen 

wie so eine von nahem aussieht


So genug geredet

schieben Sie mich ins Badezimmer 

Es ist an der Zeit 

dass ich mein Bad nehme


JOSEPHINE rollt MADAME hinaus. 


Nach einer Weile kommen die beiden Männer wieder 


1.MANN: 

Gut, dass es nur eine Kiste gewesen ist 

Eine zweite wäre über meine Kräfte gegangen


2.MANN: 

Hast du es gesehen 

Ein ganzes Museum hat sie da im Keller 


Das muss ein Vermögen wert sein 

Ich muss Josephine gleich einmal fragen

ob Madame noch Verwandte hat 

mit denen sollten wir uns in Verbindung setzen 

Wenn die Alte einmal abkratzt 

und so lange kann das ja nicht mehr dauern 

sollten wir uns um die Entrümpelung kümmern 

das kann uns ein Vermögen einbringen 


1.MANN: 

Das wirst du gefälligst bleiben lassen 

versündige dich nicht 

Wie kannst du so über Madame reden 


2.MANN: 

Du mit deinem Anstand 

mit deiner Moral 

Wie weit hat dich das gebracht 

mein Freund? 

Du bist arbeitslos 


1.MANN: 

Und du 

deine skrupellose Habgier 

hat dich nicht viel weiter gebracht 


2.MANN: 

Ich habe Pech gehabt 

das ist alles 


JOSEPHINE kommt mit ein paar Flaschen Bier herein. 


1.MANN: 

Josephine 

Du bist ein Engel 


Sie gibt beiden eine Flasche Bier. Der 2.MANN nimmt sie in seinen Arm. 


2.MANN: 

Na 

willst du nicht mal heute Abend 

auf ein Gläschen bei mir vorbeikommen? 

Wir hätten bestimmt viel Spaß miteinander 


JOSEPHINE: 

Den Spaß kann ich mir schon vorstellen 

aber ich bin mit Alfons verabredet 

Madame wollte es so 


2.MANN: 

Madame Madame 

Jetzt bestimmt die Alte auch schon dein Privatleben 

Es ist kaum zu glauben 


1.MANN: 

Sei still 

du bist ja nur eifersüchtig 


2.MANN: 

Eifersüchtig? 

Auf Alfons? Auf Alfons den Briefträger? 

Dass ich nicht lache 


1.MANN: 

Josephine 

Hör nicht auf sein Geschwätz 

Seitdem auch er arbeitslos ist 

ist er nicht mehr zu ertragen 

Alfons ist ein netter Kerl 

vielleicht ein wenig sonderbar 

aber wer ist das nicht? 


Er berührt eines der weißen Laken 


Wenn Ihr noch einen Anstreicher braucht 

Ich habe Zeit 

Ich mache das wirklich gerne 


JOSEPHINE(lacht): 

Aber nein 

Hier wird nicht tapeziert 

Das ist nur 

weil Madame Besuch bekommt 


1.MANN: 

Besuch? 


JOSEPHINE: 

Ja 

Jemand aus Deutschland 


1.MANN: 

Und wieso deckt sie alles ab? 


2.MANN: 

weil sie krank ist 

Verstehst du? 

Plemm Plemm


JOSEPHINE: 

Madame hat sicherlich ihre Gründe dafür 


2.MANN: 

Gründe Gründe 

Die Frau ist nicht normal 

Den Bäumen spielt sie Musik vor 

und ihre Möbel deckt sie mit Tüchern ab 

Das ist doch nicht normal 

Vielleicht sollte man sie in ein Heim geben 

Auf jeden Fall sollten wir die Verwandten benachrichtigen 

Wenn Josephine mir die Adresse gibt 

schreibe ich gern ein paar Zeilen 


1.MANN: 

Die Zeilen kann ich mir vorstellen 

Komm jetzt 

Wir müssen bei Madame Ossard noch den Garten machen 


Er nimmt ihn am Arm 


zu JOSEPHINE 


Danke für das Bier 

Und bestell Madame 

einen schönen Gruß von uns 

Bis bald 


Beide verlassen das Zimmer Der 2.MANN taucht noch einmal kurz im Türrahmen auf 


(grinsend

Und du hast heute Abend wirklich keine Zeit? 


JOSEPHINE(böse): 

Nein



Calvados

Das kleinere Übel 

ist immer das des anderen.

Die Welt nennt es Neutralität. 

Und das ist das größere Übel.



PERSONEN:

HÖHERE INSTANZ 

MADAME OSSARD

JUNGER ARBEITER

ALTER ARBEITER

JUNGE FRAU

JUNGER MANN 

ARZT deutscher Offizier

ANNA seine Frau

KARL

RUSSE

TILLY

ALFONS der Briefträger 

ZWEI MÄNNER

ALTER FRANZOSE 

FLÜCHTLINGSFAMILIE


 


Prolog I


BEI EINER HÖHEREN INSTANZ


HÖHERE INSTANZ (aus dem OFF): 

Sie haben Menschen das Leben gerettet 

beispielsweise Juden

Deutschen

Franzosen ?


MADAME OSSARD:

Entschuldigen Sie bitte

dass ich unterbreche

aber so stimmt das nicht

Ich möchte nur wissen

woher Sie Ihre Informationen beziehen 

Sicher haben Juden

Deutsche bei mir gewohnt 

auch Araber

sogar Russen

Aber

dass ich Menschen

das Leben gerettet haben soll 

daran kann ich mich

beim besten Willen nicht erinnern

Sie überlegt.

Warten Sie 

Warten Sie

Ich glaube

da war doch was

Ich erinnere mich wieder

Sie lächelt.

Es war kurz nach der Befreiung von Paris

Man feierte auf den Straßen

Es muss so gegen zehn Uhr abends gewesen sein 

Da kam ein junger amerikanischer Soldat zu mir 

Ein Neger

Volltrunken

Ein schöner junger muskulöser Neger

mit einem schönen braunen Hintern

Einen Knabenhintern

so wie ich ihn liebe

Sie verstehen was ich meine?

Nun

er hatte nur einen Schönheitsfehler

Eine Kugel

steckte in diesem Prachtexemplar von Hinterteil 

Er hatte sich mit ein paar Zuhältern gestritten 

wegen einem Mädchen

Das waren noch Zeiten

Ich habe sie ihm rausgeholt

aus diesem hübschen Hintern

Bezahlt hat er in Naturalien

Wenn Sie verstehen

was ich meine


nach einer Weile


Sind Sie noch da?


Aus dem OFF: HÖHERE INSTANZ räuspert sich.


HÖHERE INSTANZ (aus dem OFF): 

Wieder zum Thema

Sie behaupten also

keine Juden

sowie Franzosen der Resistance 

bei sich aufgenommen zu haben?


MADAME OSSARD:

Das habe ich nicht gesagt

Was glauben Sie

wer alles bei mir gewohnt hat?

Einmal sogar Chinesen

Bei Madame Ossard

haben sie alle einmal gewohnt

Hauptsache die Francs stimmen 

Verzeihung

stimmten

Aber

das kann mir jetzt auch egal sein

allem Anschein nach

brauche ich hier kein Geld

Oder?

Aber

um auf Ihre Frage zurückzukommen 

Deutsche

Juden

Franzosen

haben bei mir gewohnt

Bei Juden habe ich mir immer

einen Vorschuss geben lassen

Das war handelsüblich

Das wird Ihnen jeder im Viertel bestätigen


HÖHERE INSTANZ (aus dem OFF): 

Madame Ossard


MADAME OSSARD: 

Ja?


HÖHERE INSTANZ (aus dem OFF): 

Sie haben also beispielsweise Juden

vor den Deutschen Besatzern versteckt?


MADAME OSSARD:

Das können Sie mir nicht anlasten 

Versteckt habe ich niemanden

Aber Ausweise habe ich auch nie verlangt 

Sie wissen ja

wie das ist

Da möchte Mann mal gerne

aber die Ehefrau darf davon nichts wissen 

Sie verstehen?

Eine Stunde später

ist das Zimmer wieder leer


HÖHERE INSTANZ (aus dem OFF): 

Es geht hier nicht um verstehen

Es geht um Tatsachen

Haben Sie nun während des Krieges oder davor

Emigranten Unterschlupf gewährt? 

Ja?

Oder nein?


MADAME OSSARD:

Sie tun ja gerade so

als ob ich einer kriminellen Vereinigung angehört hätte

Aber

wenn Sie so fragen

erinnere ich mich wieder

Im Jahre dreiunddreißig

nach der Wahl Hitlers zum Kanzler haben viele Deutsche

bei mir gewohnt

Ob Juden darunter waren

kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen 

Mit den wenigsten hatte ich Kontakt 

Sie verstehen

was ich meine?

Die Deutschen

sind mir in guter Erinnerung geblieben 

Wissen Sie

Deutsche haben es schwer

Deutsche sind Kopfmenschen

Wenn sie etwas nicht verstehen

oder nicht erreichen können 

verzweifeln sie

brechen zusammen

wissen nicht mehr weiter

Sie schreiben einen Abschiedsbrief

und hinterlassen blutige Bettwäsche 

Und wer hatte damals den Ärger?

Ich

Die Polizei musste kommen

Protokolle wurden aufgenommen 

Zimmernachbarn verhört

Und ich konnte das Zimmer

für mindestens einen Tag nicht vermieten

Es ist gar nicht so einfach 

ein Hotel zu führen 

besonders als Frau

Das können Sie mir glauben

Es gab Zeiten


HÖHERE INSTANZ (unterbricht aus dem OFF): 

Madame Ossard

Ich bitte Sie!

Sie sind hier

weil Sie Menschen das Leben gerettet haben 

Verstehen Sie das?


MADAME OSSARD:

Leben

Ein Wort

das hierher nicht passt

Leben

Gelebt habe ich

Mein Hotel auch

Überleben musste ich

kämpfen

immer und immer wieder

Was mag bloß aus meinem Hotel werden 

wo ich doch jetzt hier bin

und Sie mir Fragen stellen

die ich nicht verstehe?

Meine Zimmer

Wenn die nur reden könnten

Meine Zimmer

die müssten Sie befragen


Prolog II


VON DER LEBENDIGKEIT TOTER GEGENSTÄNDE


Heute.

Das Hotelzimmer ist spärlich eingerichtet (Stahlbett, Waschschüssel mit Ständer, Tisch und ein Stuhl). Es hat eine Tür und zwei Fenster, in das eine blinkt eine rote Neonreklame mit der Aufschrift „Cabaret“ hinein. Ein ALTER und ein JUNGER ARBEITER betreten das Zimmer, sie haben Bretter und Werkzeug dabei.


JUNGER ARBEITER:

Meine Frau hat uns Baguettes gemacht 

dazu dein Rotwein

Er schnalzt mit der Zunge.

Wir werden es uns schon gemütlich machen

Der Chef wird das Haus bestimmt nicht betreten 

der ist ja nicht lebensmüde

Na ja

man kann sich in diesen Zeiten

die Arbeit nicht aussuchen

Erzähl mir was über sie


ALTER ARBEITER: 

Wen meinst du?


JUNGER ARBEITER: 

Wen wohl

Du hast sie doch gekannt 

die komische Alte


ALTER ARBEITER:

Du meinst Madame Ossard?

Und ob ich die gekannt habe

Als kleiner Junge habe ich schon für sie gearbeitet 

Mein erstes Geld habe ich bei ihr verdient 

Morgens brachte ich Baguettes und Zeitungen 

Mittags musste ich die schmutzige Wäsche

in die Putzerei bringen

Und abends habe ich den Gästen

die Stadt gezeigt

Du verstehst

was ich meine

Das war übrigens ihr Lieblingssatz

Du verstehst

was ich meine

Madame Ossard war ein feiner Kerl

eine Persönlichkeit

da kannst du alle im Viertel fragen

Bei ihr habe ich einiges gelernt

Sie war meine erste Frau

verführt hat sie mich

im Mangelzimmer

Auf jeden Fall hatte sie Charakter

Und jetzt nagle ich ihr die Fenster zu

Ihr Jungen habt keine Ahnung

Alles müsst ihr abreißen

um dann eure hässlichen Kästen hinzusetzen 

Wenn ich da nur an die Markthallen denke

tut es mir in der Seele weh

Und dieses Hotel?

Nächste Woche wird es abgerissen

Die Eisenkugel donnert drei viermal gegen das alte Gemäuer und Schluss ist

Schutt bleibt übrig

wird in die Vorstadt gefahren.

Vorbei ist es mit Madame Ossards schönem Hotel 

Und dir soll ich etwas erzählen?


Der JUNGE ARBEITER beginnt mit Brettern ein Fenster zu verriegeln.


JUNGER ARBEITER:

Ist ja schon gut

Hilf mir mal lieber

Hoffentlich halten die Bretter

Die Rahmen hier sind total morsch


Er holt ein Brett und bleibt vor dem Waschständer stehen.


Renovieren hätte sie sollen

Ohne Dusche und WC

läuft doch heutzutage gar nichts mehr

Da sind ja sogar noch Blutflecken dran

Wie unhygienisch

Ich kann nicht verstehen

wie man so ein Hotel herunterkommen lassen kann


Der ALTE ARBEITER bringt ihm Hammer und Nägel.


ALTER ARBEITER:

Halt' den Mund

Bringen wir es lieber hinter uns

Es ist und bleibt dennoch eine Schande 

Aber davon verstehst du nichts

Wenn diese Wände erzählen könnten 

Ach

da würdest du ganz anders reden


Er entfernt sich wie in Trance von ihm.


Wenn sie nur erzählen könnten 

was sie gesehen haben


Der JUNGE ARBEITER schaut ihm verdutzt nach.


Plötzlich verschwinden die Wände. Fenster- und Türrahmen bleiben. Der Raum wird nur durch Einrichtungsgegenstände begrenzt.


Der ALTE ARBEITER hat seinen Kittel ausgezogen.


Aus dem OFF: Musik von Astor Piazzolla: CONCERTO PARA QUINTETO).


DAS LIED VOM BANKROTTEUR UND SEINEM MÄDCHEN


ALTER ARBEITER (singt):

Die Straßen staubig

Kinder spielen mit ihren Hunden 

Frauen stehen stolz an Häuserwänden 

Männer stehen an den Theken 

trinken Bier und Calvados

Mädchen

lachen laut

Und ein Wind

geht durch die Straßen 

pfeift um jede Häuserwand 

Warten

hattest du früher nie gekannt 

Warten

Früher

war sie schön die Kleine

lächelte wie eine Sonne

nahm Männer mit nach Haus 

wenn sie liebte

vom Himmel schallte es Applaus 

Ja die Kleine

ihr Herz groß

wie ein Ozean

liebte jeden

und jeden Mann

Jetzt sitzt sie da am Küchentisch 

wartet auf ihn 

den Bankrotteur der großen Welt 

Aber er

hatte nur versprochen 

und nichts gehalten 

Alt ist die Kleine 

Vom Warten

sind die Ellenbogen rau

Früher

blieb er 

ein oder zwei Nächte nur weg

Dann kam er eines Tages

brachte Fleisch und Blumen

manchmal sogar ein Halstuch aus Seide 

Sie hatte nur gelächelt

ihm ein Bad gemacht

und den Rücken massiert

dem Bankrotteur

Er träumte von der großen Welt

 sie liebte ihre kleine Welt 

Dennoch war es ihr Mann 

Es gab Abende

an denen sie sehr stolz auf ihn war

Jetzt sind ihre Augen trübe

und ihr Mund schmeckt nach Tabak 

Warten

Der Aschenbecher beweist es

Auf den Straßen ist es staubig

und die Kinder spielen längst nicht mehr 

Die Männer stehen an der Theke

trinken Calvados und Bier

Draußen stehen die Frauen

und sie lächeln stolz

Auch die Kleine ist darunter

und sie wartet

wartet

wartet


Die Musik verklingt.


ALTER ARBEITER:

So hat sie damals angefangen

als er nicht mehr kam

Zehn Jahre

ist sie bei jedem Wetter auf der Straße gestanden 

hat ihr Geld verdient

ehrlich

und nie zu viel genommen

bis sie es sich hat leisten können

das kleine Hotel

Es ist schon seltsam

Das kleine Hotel

ist soviel älter

als Madame

aber man bringt es nur mit ihr in Verbindung 

so als ob es eine Zeit

vor Madame

nie gegeben hätte

Der Besitzer vor ihr

ist niemandem im Viertel

in Erinnerung geblieben

Passte wohl auch nicht in diese Gegend 

zu diesen Menschen

in diese Zeit

Die Zeit war nicht immer schön

aber irgendwie hat sie es immer geschafft 

ihr kleines Hotel zu halten

Vielen Menschen war es eine Zuflucht Heimstätte

Anlaufpunkt

Briefadresse

Liebesnest


1. Szene


VOM SCHWEISSGERUCH DER BETTMATRATZEN


Sommer 1935.

In dem Hotelzimmer.

Die JUNGE FRAU und der JUNGE MANN liegen im Bett. Ihre Gesichter und Haare sind naß von Schweiß; sie haben sich gerade geliebt. Der JUNGE MANN schüttet Calvados in zwei große Gläser.

Die JUNGE FRAU zündet zwei Zigaretten an.


JUNGER MANN:

Für Cognac hat es leider nicht mehr gereicht


JUNGE FRAU:

Aber

das macht doch nichts 

Hier


Sie reicht ihm die Zigarette. Er gibt ihr ein Glas.


JUNGER MANN:

Danke

Und dir macht das wirklich nichts aus 

Ich meine hier

Dieses kleine Hotel

Aber momentan kann


Sie küsst ihn.


JUNGE FRAU:

Willst du nicht mir mir anstoßen?


Beide stoßen miteinander an.

Dann dreht er sich zur Seite und nimmt einen großen Schluck.


JUNGER MANN:

Es ist eine Schande

dass wir nach Paris fahren müssen 

um uns zu lieben

Und dann in so einem Loch

Hast du gesehen

wie uns die Wirtin angeschaut hat? 

Die hat sofort gemerkt

das wir nicht verheiratet sind


Sie küsst ihn auf den Hals.


JUNGE FRAU (lächelnd): 

Du hast wohl vergessen 

wo wir sind

Paris

Stadt der Liebe

Stadt der Illusion

Hier ist es egal

ob wir verheiratet sind oder nicht

Hier zählt das 

was ist

was man tut 

Also komm


Sie dreht ihn zu sich hin.


Denk nicht soviel nach 

Hm

Tu mir den Gefallen 

nicht jetzt


JUNGER MANN:

Wenn das so einfach wäre

Ich kann doch die Tatsachen

nicht einfach ignorieren

Und eine Tatsache zum Beispiel ist

dass dein Vater

uns verbietet

zu heiraten

und wir uns in schmierigen Pensionen

treffen müssen

Vielleicht sollte dein Herr Vater

eine Anzeige in die Zeitung setzen

Herr Professor Goldmann gibt bekannt

dass seine Tochter nur für Akademiker zu haben ist 

Anfragen bitte unter dem Chiffre


JUNGE FRAU:

Du weißt ganz genau

dass dies nicht der Grund ist

Er hat viel mehr Sorge um dich

sieht die Schwierigkeiten einer Mischehe 

Ihm wäre es sogar am liebsten

ich würde in Paris bleiben


Sie zieht sich etwas über und steht auf.


Vorgestern

haben sie unseren Wagen konfisziert 

mitsamt dem Fahrer

Die Bankkonten sind gesperrt

Papa meint

dass sei erst der Anfang

Die Kollegen schneiden ihn auch schon 

Seit gestern

geht er nicht mehr in die Universität 

Die Demütigung

will er sich ersparen

Ich kann ihn gut verstehen


JUNGER MANN:

Unsinn

alles Unsinn

Dir und deinem Vater

wird überhaupt nichts passieren

Das Deutsche Volk braucht deinen Vater 

Er ist Wissenschaftler

in der ganzen Welt anerkannt 


JUNGE FRAU:

Nur nicht in Deutschland


JUNGER MANN:

Ich gebe ja zu

dass mit dem Wagen

und den Bankkonten ist nicht richtig 

Aber wir sind erst am Anfang

da muss man kollektiv handeln

um schnell Veränderungen herbeizuschaffen 

Du wirst sehen

nichts wird so heiß gegessen

wie es gekocht wird


JUNGE FRAU:

Du mit deinen Sprichwörtern

Vater hat ganz recht mit seinen Bemerkungen


Er richtet sich auf.


JUNGER MANN (zynisch):

Zu welchen Bemerkungen

lässt sich dein Herr Vater denn hinreißen?


Sie lächelt ein wenig.


Hm

Sag schon


Sie geht auf das Bett zu.


Nun

er sagt

für dich wird sich schon etwas finden

und wenn du nur auf das Oktoberfest gehst 

und dein Gehirn ausstellen lässt

Hier ist zu sehen

das kleinste Stückchen Verstand

von ganz München

Aber

arisch


Er schmeißt ihr ein Kissen an den Kopf.

Sie lässt sich auf das Bett fallen. Beide müssen lachen.

FÜR ATZE BRAUNER


Mata Hari  

eine Nacht - ein Leben


Für M.B.



PERSONEN: 


MATA HARI Tänzerin vermeintliche Spionin


CONFERENCIER

DEUTSCHER

FRANZOSE

OFFIZIER die vier männlichen Personen können von Mata Hari oder einem weiteren Schauspieler dargestellt werden.


FLÜSTERNDE STIMME aus dem OFF

NONNENCHOR aus dem OFF


Prolog


Dunkelheit


Aus dem OFF: Leise Choralmusik und das Tapsen von Ratten


Der Mond wirft sein Licht durch ein Gefängnisfenster. Schatten der Fensterstangen liegen auf einer Wand.

Auf dem Boden ein großer rechteckiger Kasten und ein runder Klumpen, in den langsam Bewegung kommt.


MATA HARI: 

Was für eine Kälte

In diesem feuchten Loch

Da können die Mauern

noch so dick sein


MATA HARI dreht die Flamme einer Gaslampe höhe, stellt sie auf einen großen Überseekoffer und reibt sich die Hände gegen die Kälte.

Sie kniet in einem Militärmantel auf dem Boden und lauscht der Choralmusik


Ein Gefängnis

das von Nonnen bewacht wird

Was für Zeiten!


Aus dem Off: Die Choralmusik verstummt. Glocken läuten.


MATA HARI:

Shit

Merde

Scheiße

Kein gottverdammtes Gebet

fällt mir ein


Sie beginnt zu singen. Mata Hari singt ein altes holländisches Kinderlied


MATA HARI:

Wenn Gott

ein Holländer ist

lässt er bestimmt mit sich handeln

Ein Kinderlied 

ihm zu Ehren

das müsste ihm doch gefallen

In Leeuwarden

gab es soviel zu entdecken

Ein eigenes Universum

Als Kind wollte ich nicht weg

Mama

habe ich gesagt

wir bleiben für immer zusammen

Opa hat draußen

auf der Bank gesessen

ohne Zähne

eine Pfeife geraucht

Vater war Hutmacher und hat an der Börse spekuliert

Auf Java soll er gewesen sein

hat mir kleine Elfenbeinfiguren mitgebracht

und mich 

Auge des Tages genannt

Was so viel wie Sonne bedeutet

Meine Sonne

hat er immer zu mir gesagt

Meine Mutter

hatte javanische Wurzeln

Auge des Tages

Mata Hari


Sie steht auf und starrt in unendliche Ferne.


Mata Hari summt ein französisches Lied


BÜHNE DUNKEL



1. Szene


Dunkelheit


Aus dem OFF: Meeresrauschen


Der Mond, der sich über das Schattenkreuz an der Wand gelegt hat, leuchtet blass gelb.


Der Raum, eine Gefängniszelle, ist karg eingerichtet und kennt keine Farben außer grau. 

Eine Pritsche, ein Tisch, ein Schemel, ein Krug mit Wasser, ein Eimer für die Notdurft und ein großer Überseekoffer mit Aufklebern aus aller Welt.

Im Hintergrund hängen Laken an der Leine.

Auf dem Tisch liegt ein Stapel graues Papier und graue Stifte.


MATA HARI kniet immer noch im grauen Militärmantel auf dem Boden und hält sich die Augen zu.

Sie atmet tief ein.


Auf den Laken erscheint ein Meer in Bewegung.


MATA HARI:

Seeluft

Salzig

wie man sie nur aus Holland kennt

Wir hatten immer Strandkörbe

Blau weiß gestrichen

mit roten Sitzen

dafür hat Papa gesorgt

Wahrscheinlich

werden sie immer noch da stehen

mit Schildern

auf denen RESERVIERT steht

Kleine weiße Schirme

haben wir gegen die Sonne gehalten

und sie in unseren Händen gedreht

bis alles geglitzert hat

als läge Goldstaub 

in der Luft


MATA HARI steht auf, nimmt die Hände von den Augen und greift mit in die Manteltaschen. Mit vollen Händen verstreut sie Sand, der im Licht golden schimmert. 

Sie stülpt die Innentaschen aus und klopft die letzten Sandkörner ab.

MATA HARI dreht sich dabei gegen dem Uhrzeiger im Kreis und verteilt den Sand spiralförmig um sich herum. Sie dreht sich immer schneller, bis sie auf dem Boden zur Ruhe kommt.

Aus dem Sand formt sie eine Burg.


MATA HARI:

Unbeschwerte Kindheit

Sommerduft

eingepackt in ein leuchtendes Blau

mit goldenem Strand

Weiße Schaumkronen 

auf dem Wasser

und eine warme Luft

die einen zärtlich gestreichelt hat

Wenn man in einer Muschel

das Meeresrauschen einfangen kann

dann kann man auch

das Unbeschwertsein einpacken

es mitnehmen

ins Leben 


Sie klopft sich den Sand aus den Händen und überlegt.


Was soll ich aufschreiben?

Wenn mir schon kein Gebet einfällt

Schreiben Sie die Wahrheit

das befreit

Für wen ist es eine Befreiung?

Für mich sicher nicht

In jedem Wort mit „heit“ am Ende

steckt Lüge 

Absicht


Was für eine Schönheit!


Ins Bett will der Bube 

sonst nichts


Freiheit

schreien sie und stürmen die Barrikaden

danach rollen die Köpfe


Name?


Margaretha Geertruida Zelle

Da haben sie alle gestaunt

die hatten sie nicht in ihren Akten


Staatsbürgerschaft?


Da habe ich geschwiegen

Was hätte ich sagen sollen?

Holländisch?

Französisch?

Deutsch?

Für meinen Vater

war ich immer die Prinzessin aus Java

Meine Papiere

haben sie studiert

Sie gegen das Licht gehalten

als ob zwischen den Papierschichten

ein Geheimnis zu lüften wäre


Das Schweigen

verwirrt sie

die Stille

ist für sie unerträglich

Schweigen

ist Macht

Da werden die Herren

unruhig auf ihren Sitzen

reiben ihre pickligen Ärsche

auf harten Bänken

Sollen sie doch

meine Tagebücher studieren

sie sind voll mit Zeitungsausschnitten

und Bildern

Das bin ich

mehr muss man von mir

nicht wissen

Haben sie etwa geglaubt

ich wäre nackt in den Gerichtssaal gesprungen

Nein

den Gefallen habe ich ihnen nicht getan

Das dunkle Kostüm 

habe ich angezogen

Vom Hals

bis zu den Fesseln

dunkles Tuch


sie lacht


An ihren großen Augen

habe ich gleich erkannt

dass sie ganz andere Bilder

von mir verschlungen haben

Mit bebenden Kinn und Nase

mit einem See im Mund

der sich an den Seiten

wie ein Wasserfall

seinen Weg gesucht hat

haben sie mich 

aus dem Fotopapier

in ihre verwegenen

feuchten Träume gesaugt

Kannibalen der Lüste

mit Allmachtsfantasien

die sie an ihren Dienstmädchen

Untergebenen 

auf staubigen Dachböden

oder feuchten Kellern ausleben

Die mit dem Gehstock

und den hohen Hüten

gehen in „das Haus“

Jede noch so kleine Stadt

hat so ein Haus

Geführt von einer Kriegerwitwe

so wird erzählt

die ihre unzähligen Nichten 

durchbringen muss

die alle musisch 

sehr begabt


sie lacht


Also 

was soll ich schreiben?


Mata Hari

Tänzerin

in ganz Europa 

berühmt

gefeiert 

verehrt


Vier Zahlen 

sollen für das Erste reichen


MATA HARI nimmt ein Blatt Papier und einen Stift vom Tisch.

Sie legt sich auf den Bauch und faltet aus dem Papier ein Schiffchen. Dabei sind ihre Beine angewinkelt und zappeln wie bei einem Kind.

Sie schreibt vier Zahlen auf das Schiffchen und betrachtet es lächelnd.

Dann steckt sie es in die Spitze der Sandburg.  Die Zahl „1897“  ist zu lesen.


MATA HARI:

Achtzehn war ich

als ich auf das Inserat

in einer Den Haager Zeitung 

geantwortet habe

Vater war in Amsterdam

um sein Geschäft zu retten

Mutter seit drei Jahren 

unter der Erde

Ich hatte mir fest vorgenommen

Kindergärtnerin zu werden

Aber der Leiter der Schule

hatte anderes mit mir vor

Natürlich

hat er das anders dargestellt

So viel geredet

dass niemand mehr wusste

wer Verführer

wer Opfer

Auf die Bibel

hat er geschworen

und nicht unerwähnt gelassen

wer letztendlich 

für die Vertreibung aus dem Paradies

verantwortlich gewesen ist

Da ist das Inserat

gerade recht gekommen

Nicht viel geschrieben

mein Foto sprechen lassen

Ein paar Tage später

die Antwort

Eine Seite Brief

und ein Foto

Ein Mann

in Uniform

Älter 

hat er ausgesehen

viel älter

als mein Vater

Der Onkel

bei dem ich gewohnt habe

hat mich nicht gehen lassen

So ist der Mann auf dem Foto

zu mir gekommen

hat sich vorgestellt

und um meine Hand angehalten

Gekauft

wie gesehen


Sie lacht.


Gekauft

wie gesehen

hätte Papa gesagt

Bestimmt ist Geld geflossen

So habe letztendlich ich

Papa das Geschäft gerettet

In die Richtung

wohin das Geld fließt

dahin dreht sich auch die Welt


Sie steht auf, klopft den Sand vom Mantel.


Leider

ist der Scheitelpunkt einer Glückswelle

schnell erreicht

Zum Glück

ist Geld da gewesen

und ich habe die rasante Abfahrt

mit Einkäufen versüsst

Eine Frau

hat nie genug anzuziehen

muss sie doch

in so viele Rollen schlüpfen

Von der Hure

bis zur Mutter

über die Hausfrau

Beraterin

Schmuckstück zum Zeigen

und und und 


Sie legt sich im Militärmantel rücklings auf die Pritsche und starrt an die Decke.


Aus dem OFF: Meeresrauschen und von weitem das Signalhorn eines Schiffes.


So bin ich mit dem Schiff 

Richtung Java

18 Monate verheiratet

mit einem Mann

der mein Vater hätte sein können

Das Unbeschwertsein

eingepackt in Tüll und Seide

Den Vater

eingetauscht 

gegen einen Offizier

Rudolph MacLoud

sein Name

mit schottischen Vorfahren

aber durch und durch Holländer

gezeichnet durch seinen Dienst

in der Kolonialarmee

Mit der Überfahrt nach Ostindien

hat er wohl geglaubt

meine Kauflust einzudämmen 


sie lacht


Wie eine Schlange bewegt sich MATA HARI lasziv auf dem Bett und befreit sich langsam  von dem grauen Militärmantel.

Mit einer Hand öffnet sie lässig den Überseekoffer, aus dem Licht strömt.

Der blasse Mond verwandelt sich schleichend in eine gleißende Sonne.


Eine seltsame Gesellschaft

hatte sich da an Bord eingefunden

Frauen

deren Haut 

blass

wie junger Käse

aber falsch gelagert

ausgetrocknet

mit Falten und Rissen

Wie eine Blume

die nicht aufgeht

die einfach verkümmert

ohne auch nur einem Insekt

die Blütenstempel zu zeigen

Frauen

ohne Schatten

weil der längst von ihnen Besitz genommen hat

Seelenlose Gestalten

mit einem Ziel

auf irgendeiner der unzähligen Plantagen

das Zeitliche zu segnen


MATA HARI dreht sich zur Seite und lässt den grauen Militärmantel langsam zu Boden gleiten. Darunter trägt sie einen eleganten weißen Badeanzug. 


Ich habe bis heute nicht verstanden

warum sie ihre Männer begleitet haben

Nur um auf Java zu sterben?

Dabei ist Java

soviel mehr

die Insel Avalon

der Zauberer Merlin

die Lotusesser

Legenden

zwischen Spinnennetz

und Nebel


Wahrscheinlich

gibt es nur zwei Sorten

von Menschen

Die einen

die Angst vor dem Ungewissen

dem Fremden haben

Die anderen

die gespannt sind

und sich auf das Neue 

Unbekannte freuen


MATA HARI reibt sich ein. Sie genießt es, ihren Körper zu berühren.


Den ganzen Tag Sonne

kann es etwas Schöneres geben?

Während die Frauen unter Deck

sich die Seele 

aus dem Leib gekotzt haben

sind ihre Männer oben 

an der frischen Seeluft

auf und ab gegangen

Ach was

wie räudige Hunde 

sind sie herumgestreunt

haben mich nicht 

aus den Augen lassen

Jede meiner Bewegung

haben sie genossen

vom Kapitän bis zum Küchenjungen

Der erste Sonnentag an Deck

auf dem Weg nach Java

ist letztendlich mein Debüt gewesen

Ohne es zu wissen

war es mein erster Auftritt

Das Deck war die Bühne

und die Sonne der Scheinwerfer


Aus dem OFF: Nachtvogelgeschrei


MATA HARI richtet sich auf und hält sich die Hand vor die Stirn


MATA HARI:

Wie schön das Meer glitzert

als hätte jemand 

den Schleier 

einer orientalischen Prinzessin ausgerollt

Dort drüben

das muss Java sein



BÜHNE DUNKEL

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